Vielschichtige beseelte Malerei
Anmerkungen zu einigen in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Bildern von Miriam Vlaming

„Seele des Menschen, wie gleichst Du dem Wasser!“
Goethe, Gesang der Geister über den Wassern

Prägende Jahre: Studium in Leipzig

Die niederländische, 1971 in Hilden geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Künstlerin Miriam Vlaming studiert seit 1991 zunächst Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 1994 beginnt Vlaming ihr Kunststudium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Professor Arno Rink (1940 – 2017) und Neo Rauch (*1960), zwei wichtigen Vertretern der Leipziger beziehungsweise Neuen Leipziger Schule.¹ Nach Beendigung des offiziellen Studiums mit Auszeichnung im Jahr 1999, absolviert die Künstlerin weitere zwei Jahre unter der Obhut von Arno Rink mit dem Abschluss Meisterschülerin. Für ihren Lehrer, den Künstler Rink, bei dem übrigens auch Neo Rauch studiert hatte, stand im Vordergrund, seinen Studierenden „ein gewisses Bewusstsein und eine innere Haltung zu den Materialien und Prozessen des Malens“² zu vermitteln. Der „Auf-dem Grund-Geher“³ Rink war alles andere als doktrinär und förderte die Entwicklung individueller künstlerischer Persönlichkeiten mit authentischem Selbstverständnis und eigenem Ausdruck. Seine Schülerin Miriam Vlaming profitierte von der fundierten langen Ausbildungszeit. Mit ihrem Lehrmeister verbindet die Künstlerin auch ein geradezu affektives Verhältnis zu ihren Farben: Ölfarbe bei Rink und Eitempera bei Vlaming: „Ich verstehe den Akt des Malens als eine Sinneserweiterung und einen Ausstieg aus einem Leben hinein in ein anderes Leben, in dem Schöpfung und Zerstörung, Phantasie und Realität sich gegenseitig nicht ausschließen. Durch den malerischen Prozess verstärkt sich die Wahrnehmbarkeit des realen Lebens.“

Später unterrichtet die junge Künstlerin Vlaming immer mal wieder selbst im Rahmen von Lehrverträgen: von 1999 bis 2000 an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst in der Abendakademie oder von 2001 bis 2003 an der Hochschule für Gestaltung in Berlin (BTK). Miriam Vlaming erhielt auch eine Reihe von (Reise-)-Stipendien, die wichtige Etappen in ihrer künstlerischen Entwicklung sind: unter anderem 2001 einen Arbeitsaufenthalt in Kenia und 2004 das Auslandsstipendium in Columbus Ohio. Oder 2010 das Auslandsstipendium in Herzlia in Israel, welches sie mit ihrer halbjährigen Tochter ‚im Gepäck‘ wahrnahm.⁵

Und schwupps bin ich in einer Welt ohne Grenzen – der Malerei“⁶

Seit ihren künstlerischen Anfängen malt Miriam Vlaming ohne Vorskizzen direkt auf die weiße Leinwand, nahezu ausschließlich mit selbst hergestellten Eitemperafarben, die sie in vielen verschiedenen Tiegeln immer wieder frisch anrührt.⁷ Die im Vergleich zu Ölfarbe schnell trocknenden Farben trägt sie in altmeisterlicher Manier in mehreren dünnen Schichten auf. Dabei überdecken die oberen Lagen der meist etwas kreidig wirkenden Farben partiell das zu Beginn Gemalte. Teilweise scheinen die unteren Malschichten aber auch durch die oberen Farbschichten durch. Während des lange Zeit in Anspruch nehmenden Malprozesses, bei dem sie außer diversen Pinseln auch Schwämme, Bürsten und ihre Hände einsetzt, kommt es regelmäßig vor, dass die Künstlerin ganze Bereiche ‚auswäscht‘, wofür sich die selbst gemischten Eitempera-Farben gut eignen. Die abstrakten Spuren dieses Vorgangs – rinnendes Terpentin und verlaufende dünne Farbreste – lässt die Künstlerin stehen und legt wieder neue Lasuren darüber. Dieses Verfahren erinnert auch an antike und mittelalterliche Palimpseste, die wieder und wieder abgeschabt und ausgewaschen wurden, um erneut beschriftet zu werden.⁸ Vlamings Übermalungen bestehen somit aus Bedeckungen der „Verletzungen“ ihrer zuvor entstanden Malereien und „nicht ausformulierten“ Erinnerungen.⁹ Offene Strukturen nicht gegenständlicher Malerei – das ‚Ausradierte‘ – stehen damit neben konkret ausformulierten Partien. Interessanterweise geht das Arbeiten an großen Leinwänden bei Vlamings Lehrer Neo Rauch auch mit etlichen, später wieder übermalten Phasen einher; wie er selbst sagt, müssen seine Bilder „unzählige Zwischenstadien durchleiden /…/ und am Ende muss es natürlich aussehen, als sei es aus dem Handgelenk geschüttelt worden.“¹⁰

Die vielschichtige Malweise Miriam Vlamings ist das Ergebnis eines intensiven künstlerischen Ringens um das Werden eines Bildes. Den fertigen Bildern mit den vielen vorausgegangenen Zwischenstufen ist eine atmosphärische Dichte eigen, die einhergeht mit Unschärfe und Mehrdeutigkeiten. Ihre opulenten Bildoberflächen, mit dichten und lockeren Strukturen, verlangen nach Auslegung. Viele der in großen Formaten ausgeführten Sujets muten wie Traumbilder an und evozieren längst vergessene Erlebnisse, auch Filmszenen. Die virtuose Malerei mit all den Schlieren, Flecken und Farbinseln berührt das Unterbewusstsein. Je nach Tonalität und Unergründlichkeiten lösen die Bildszenen positive oder unbehagliche Stimmungen aus. Die Bildgefüge der Künstlerin zeichnen sich auch durch ein Gefühl für delikate Farbkonstellationen aus. Teilweise variiert sie auch einen Farbton in vielen Nuancen. Wie in der mysteriösen Begräbnisszene Schattwald (2018), in der ein in Tücher gewickelter Leichnam umgeben von einer Schar großer stattlicher Männer und Totengräber auf dem Boden liegt. Die nächtliche Szenerie ist in blaugraue Farbabstufungen gehalten, wodurch das Geschehen noch entrückter und geheimnisvoller wirkt. Die Künstlerin selbst spricht in Bezug auf das Kolorit eines Bildes vom „Farbklima“.¹¹ Bild für Bild ‚erarbeitet‘ sie dieses in ihrem aufwendigen Malprozess immer wieder neu. Oft nachts oder im  abgedunkelten Atelier.

Malen als eine Form der Aneignung der Welt

Ein großes helles Atelier ist Vlamings kreatives Refugium am Prenzlauer Berg: mit einem großen Ahornbaum direkt vor einer Fensterfront. Unterhalb davon steht ein breites Sofa. In einer etwas abgetrennten Ecke steht ihr Schreibtisch. Zahlreiche fertige, teilweise bereits verpackte Werke und weiter in Arbeit befindliche Exponate lehnen an den Wänden. Beistellwagen voller Pinsel und Farbpigmenten vervollständigen die Szenerie. Hier ringt die  Künstlerin mit den Bildfindungen. Für Miriam Vlaming ist Malen ein existenzieller Prozess: „Malen bedeutet für mich in erster Linie Kontakt mit mir selbst. Eine Annäherung an die eigene Seele. Es ist meine Art, mir die Welt anzueignen. Ich arbeite in längeren, intensiven Zeitabschnitten bis mich die jeweilige malerische Auseinandersetzung mit einem Gefühl, einem Thema anfängt zu langweilen. Dann ruht diese Arbeit teilweise auch wochenlang. Es muss immer eine innere Notwendigkeit für das Malen geben. Ich spüre dann, ich muss in die Aktion gehen. Es ist eine eigene Welt. In dieser Welt darf ich ja alles, was man im realen Leben nicht immer will, darf oder möchte. Ich pansche mit Farbe und wenn ich will, kann ich die Farbe auch mal an die Wand schmeißen und aus dem Nichts etwas schaffen, zu erschaffen, somit also auf die nackte weiße Leinwand ein ganzes Universum, das ist schon gut.“¹²

Fotografische Vorlagen sind eine wichtige Inspirationsquelle der Malerin: sowohl eigene Aufnahmen, Bilder aus Fotoalben der Familie sowie Fotografien, die sie auf Flohmärkten, in Zeitschriften und Tageszeitungen findet.¹³ In dem beschriebenen, komplexen Malprozess ‚erleben‘ die ersten Inspirationen und ursprünglichen Bildideen, die auch durch Literatur, Märchen und Mythen beeinflusst sind, so manche Transformation. Und emulgieren so mit allen anderen einfließenden Eingebungen und Reiseeindrücken zu den viele Arbeitsstadien später realisierten fertigen Bildwerken.

Miriam Vlaming fängt meist am unteren Ende der Leinwand an zu malen: nach oben wird die Malerei dann teilweise leichter und freier.¹⁴ Bilder von der barfüßig im Schneidersitz vor der Leinwand hockenden Künstlerin veranschaulichen die Arbeitsatmosphäre. Malen ist für sie ein intensives  Zwiegespräch mit sich selbst, ein Eintauchen in Erinnerungen und Generieren von Bildideen. Wie zuvor zitiert, geht es ihr bei jedem neuen Werk darum, aus dem ‚Nichts‘ eine eigene neue ‚Welt‘ zu erschaffen.¹⁵

Wandlungen

Wandlungen, Wandel, ist ein vielschichtiges, großes Thema für eine Ausstellung. Es bezieht sich auch auf die Wandlungen der Künstlerin Miriam Vlaming hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, ihren Einstellungen und Lebensumständen. Und wie diese Veränderungen wiederum ihre Kunst und Kreativität beeinflussen? Welche Wandlungen lassen sich in Vlamings Oeuvre innerhalb ihres Schaffens in den letzten zwei Jahrzehnten feststellen? Wandelte sich ihre Art zu malen? Lassen sich Veränderungen der Sujets beobachten? Die Frage nach Wandel impliziert natürlich auch die Frage, welche Konstanten sich im künstlerischen Schaffen von Vlaming finden? Und welche Wandlungen haben sich in den über zwei Jahrzehnten ihrer selbständigen Künstlerexistenz außerhalb ihres Ateliers, in der Gesellschaft und Welt vollzogen, die sich wiederum auch auf ihr Tun und Selbstverständnis ausgewirkt haben?

Die Künstlerin sucht für ihre Einzelausstellungen immer wieder markige Oberbegriffe. Neben aktuell „Wandlungen“ in Bitburg zum Beispiel „Der Mensch. Das Wesen“ 2018 für eine Ausstellung in Ottobeuren, und „Habseligkeiten”, 2009, als Überschrift einer Ausstellung in Düsseldorf. Damit stellt sich Vlaming selbst immer wieder vor neue Herausforderungen. Sie ebenso wie die Kurator*innen betrachten dann die für die Werkschau ausgewählten Exponate auch unter dem vorgeschlagenen Aspekt ebenso wie die Künstlerin in der Regel neue Werke zum gewählten Themenkomplex realisiert.

Für die Ausstellung „Wandlungen“ initiierte Miriam Vlaming einen gleichnamigen einstündigen Film. Hierfür sprach sie jeweils eine halbe oder ganze Stunde zum Thema Wandel/Wandlungen mit folgenden Personen: Dr. Stefanie Harwart, Geologin, Schamanin (Deutschland); Andrea Hiltbrunner, Autorin des Buches Womanifest (Schweiz); Florencia Lamarca, Tänzerin, Begründerin der Fluent Body Methode (Uruguay, Deutschland); Dr. Nora Schleich, Philosophin (Luxembourg); dem Bildhauer und Künstler Johan Tahon (Belgien); Larissa Wild, Art Consulterin (Colorado/USA); und der Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellung „Miriam Vlaming. Wandlungen“, Dr. Ute Bopp-Schumacher (Deutschland).

Vergänglichkeit

Viele Bilder Miriam Vlamings erinnern an vergangene Zeiten. Die Visualisierung eines aus geklöppelter Spitze gefertigten Blusenoberteils, wie Partikuar II (2008), oder Buffets in der Einrichtung, wie auf dem Bild Holy Treasure (2008), wirken anachronistisch. Sind es tief im Unterbewusstsein  abgespeicherte Erinnerungen der Künstlerin an Besuche bei den Großeltern? Oder Zitate von Bildern aus Fotoalben der Familie oder fremder Personen? Viele Motive fließen sicher oft unbewusst während des langen Malprozess mit ein. Die Arbeit Incision (2006) ereignet sich ebenfalls in früherer Zeit und zeigt eine Operation in einem nicht näher bestimmten Ort, der nichts mit einer heutigen Hightech-Klinik gemein hat. Der dunkle wolkenartige Farbraum, der die Szenerie umgibt, verstärkt die mysteriöse Atmosphäre. Unklar bleibt, wer, warum und wo operiert wird.

In einigen großformatigen Gruppenportraits visualisiert Vlaming ebenfalls Vergangenheit, indem sie Personen in altmodischem Habitus auftreten lässt. Wie auf dem Bild Herrschaften (2008), das elf dicht gedrängt stehende Männer mit mal mehr oder weniger individuell wirkenden Gesichtszügen in stattlichen Anzügen zeigt. Die Männergruppe steht vor schwarzen Silhouetten großer Bäume, durch die ein rostrot glühender Hintergrund scheint. Wer sind diese Herren? Was verbindet sie miteinander? In welcher Zeit, wo und warum treffen sie sich? Wird einer der Herren zum ‚Ritter‘ geschlagen? Oder steht ein Duell an? Andere Arbeiten verweisen auf frühere Epochen, indem die Sujets sich in historischer Bausubstanz abspielen und die Dargestellten gestrige Kleidung tragen. Wie auf dem Bild Classroom (2010), das einen atmosphärischen Klassenraum zeigt, in dem Mädchen in langen weiten Röcken auf dunklen Schulbänken sitzen, die wie Kirchenbänke anmuten. Die wenigen Jungen tragen zum Teil Hemden mit Matrosenkragen. Die beschriebene Tafel, die Holzdielen und die Bilder an der Wand sind nur stellenweise zu erkennen, sofern sie nicht von den orangefarbenen und grauen Farbschlieren verdeckt sind. Die Szenerie erinnert an ältere Aufnahmen von Schulen in den USA. So könnte diese Arbeit von Vlamings Studienaufenthalt in Columbus Ohio oder einem früheren Stipendium in Kenia inspiriert sein, ebenso wie die Arbeit Singing Class (2010): Diese spielt in einem staatlichen Musiksaal mit Holzvertäfelung. Die Wände sind durch flache Pilaster gegliedert, teilweise ist im Hintergrund das große Treppenhaus zu erkennen. Die vielfach nur von hinten und im Profil sichtbare Schülerschaft – mitsamt der Lehrerin am rechten Bildrand – sitzen auf im Kreis angeordneten Holzstühlen. Die Physiognomien der Dargestellten bleiben unscharf.

Die nostalgisch inspirierten Bilder der Künstlerin lassen sich alle nie eindeutig entschlüsseln und geben Rätsel auf. Gleichzeitig rufen sie die eigene Vergänglichkeit ins Gedächtnis, sind Memento Mori-Bilder!¹⁶ Und bleiben nicht zuletzt wegen ihrer Unergründlichkeiten in Erinnerung. Auch die Vergänglichkeit der eigenen Familie fließt in viele Arbeiten von Vlaming mit ein. Ein plastisches Memento Mori schuf sie mit in memoria, dem aus Gips geformten Kopf der Großmutter.

Kopfkino

Viele der mehrdeutigen Werke von Miriam Vlaming aktivieren ‚Filme‘ im Kopf der Betrachter*innen. Ein Beispiel hierfür sind die spärlich beleuchteten einsam stehenden Häuser, menschenleeren Terrassen, Hütten oder Wohnwägen. Unterstützt durch die Unschärfe der Malerei und die gespenstisch anmutende Farbgebung evozieren diese Werke beklemmende Gefühle. Die ‚mulmigen‘ Emotionen sind auch durch Kriminalfilme, Psychothriller und Berichte über Verbrechen mitbeeinflusst. Aus den Bildern selbst geht nicht hervor, ob jemand im Inneren der Behausungen anwesend ist oder was sich dort möglicherweise abspielt. Die subtilen Lichtstimmungen und die Farbgebung suggerieren etwas, das objektiv nicht zu sehen ist. Ein Effekt, der sich bei der Betrachtung vieler Werke der Künstlerin beobachten lässt: Dadurch, dass sie mit ihrer Malerei das Unbewusste anspricht, kommen vielfältige Erinnerungen an Gesehenes, Gelesenes, selbst Erfahrenes und längst Vergessenes auf. So ‚sehen‘ wir Betrachter*innen weitaus mehr in den Bildern als das Dargestellte: „Die Erkundung des sinnlichen Objekts und die interpretierende und imaginierende Erschließung, der von ihm dargebotenen Welt, ist dabei immer ein fragiles, oft unberechenbares und nicht selten verwirrendes Geschehen, aber es ist ein Wahrnehmungsprozeß, in dem und für den sich der Prozeß des artistischen Erscheinens entfaltet.“¹⁷ Diesen Vorgang kann eine künstlerische Arbeit auslösen, aber Künstler*innen können diesen nicht kontrollieren und lenken: „Das aber, was in diesen unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung zur Erfahrung kommt, ist keine Projektion, es ist nichts, was unsere Betrachtung lediglich hinzufügen würde; es ist nichts, was nicht wirklich da wäre. Vielmehr entdeckt jede Begegnungsweise andere Qualitäten und andere Prozesse an ihrem Gegenstand. Jede der /…/ unterschiedenen Perspektive / …/ gewinnt einen anderen Zugang zu der Wirklichkeit ihrer Objekte.“¹⁸ So sind Vlamings geheimnisvolle Bildpanoramen Impulsgeber für vielfältige, teilweise fast epische Interpretationen, die je nach Temperament, Vorbildung und Gemütslage immer wieder anders ausfallen.

Natur / Wälder

Landschaft und Natur werden im Oeuvre von Vlaming seit Beginn ihrer künstlerischen Karriere immer wichtigere Bildbestandteile. Dominieren zunächst übergroße Einzelfiguren, wie auf dem Bild Schlafwandel (2004), die mindestens die Hälfte oder auch die ganze Bildfläche einnehmen, wie bei den verschiedenen Darstellungen von Alice, agieren auf später entstandenen Arbeiten einzelne Menschen und kleinere Gruppen in weiten, unbestimmten Landschaftsräumen. Bei diesen Werken geht es der Künstlerin vor allem um die atmosphärischen Stimmungen, die von diesen Landschaften ausgehen. Einzelne Partien der oft großen Tableaus erinnern an informelle Malerei. Wie zum Beispiel bei der im abendlichen Dämmerlicht dargestellten Landschaft Big Escape (2008). Die in gedeckten Schwarzgrün-, Grau-, verhaltenem Schwefel- und Ockergelb sowie Weißtönen ausgeführte Komposition, mit rinnenden Farbenverläufen und sich spiegelnden Lichtpunkten in der Himmelspartie und im Wasser, besticht durch eine mystische Atmosphäre. In solchen ‚beseelten‘ Landschaften mit verwobenen abstrahierten Strukturen, mit oder ohne darin agierenden Personen, zeigt die Künstlerin, dass wir Menschen nur ein kleiner Teil des (Bild-)Kosmos sind. Ähnlich verhält es sich in der acht Jahre später entstandenen Arbeit Bird Watcher (2016). Zwischen üppigem, geradezu überbordendem Laub der Bäume und lianenartigen Pflanzen treten schemenhaft Menschen in Erscheinung. Die spärlich, teilweise nur mit einem Lendenschurz Bekleideten stehen am hügeligen Rand und im Gewässer und verschmelzen fast mit der dschungelartigen Natur. Und betonen die Kleinheit der menschlichen Kreatur.

Das in Märchen und Sagen unterschwellig thematisierte Gefahrenvolle in dunklen, unzugänglichen Wäldern ist in Vlamings Walddarstellungen immanent spürbar. Auf der Arbeit Waldweg (2007) sehen wir einen einsamen Menschen in einem dunklen Wald mit einer Lichtung im Vordergrund und hohen Baumstämmen, durch die ab und an Licht blitzt. Unbewusst suchen wir nach etwas ‚Bedrohlichem‘ in Form eines wilden Tieres oder anderen Menschen. Das große Gemälde Die Zentrale (2012) zeigt eine dunkle, etwas zerfallene Hütte in einem dichten, orangeroten und schwärzlichen Wald mit Hund oder Wolf im Vordergrund. Aufgrund des Titels, der an Feuer erinnernden Farbgebung und der verfallenen Örtlichkeit werden ad hoc unheimliche Gefühle und Gedanken an verbrecherische Nutzungen der Holzhütte evoziert. Das großformatige Bild Angeltag (2007) besticht durch eine melancholisch, verträumte Grundstimmung. Im unteren Drittel des Bildes sehen wir drei, in ihr Tun vertiefte, Betrachter*innen den Rücken zukehrende, staffageartige Figuren auf einem Holzsteg. Von besonderem malerischen Reiz ist die Spiegelung der Baumsilhouetten und -stämme in der ruhigen Wasseroberfläche.

Schwimmer und auf dem Wasser Treibende

Im Licht schimmernde Wasserflächen und schwimmende, im Wasser badende Personen sind seit Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn regelmäßig auftauchende Bildgegenstände von Miriam Vlaming. Als leidenschaftliche Schwimmerin von Kindesalter an hat die Künstlerin einen engen Bezug zum Wasser. Ihre im Sonnen- oder Abendlicht glitzernden oder unergründlich tiefen, dunklen Wasseroberflächen tragen maßgeblich zu den Grundstimmungen vieler ihrer Bilder bei. Sinnbildlich steht das Element Wasser für Leben, Tod und Wiedergeburt. In der Tiefenpsychologie ist dunkles unergründliches Wasser ein Symbol des Unbewussten und in der Traumdeutung steht das Element für das lebenspendende Weibliche wie auch eine zerstörerische Kraft.¹⁹ All diese Metaebenen des Elements Wasser sind in den Darstellungen der Künstlerin gegenwärtig und spürbar.

Zwei auf dem Rücken mit weit ausgestreckten Armen entspannt Treibende sehen wir auf dem 2005 entstandenen Bild Schwimmer. Die in den Himmel schauenden Protagonisten verlassen sich völlig auf die tragende Kraft des Wassers. Big Girl Drifting (2016) zeigt in stattlichem Format ein fast die ganze Bildbreite einnehmendes, großes, in einem Schwimmring badendes Mädchen, dessen Füße außerhalb des rechten Bildrand liegen. Das große Kind genießt die Fortbewegung auf dem Wasser und strahlt pure Lebensfreude aus. Ein glücklicher Moment eines jungen Teenagers, der eins ist mit der Natur und seinem Tun. Unterstrichen wird die positive Grundstimmung des Bildes durch die flirrenden Farben und die vielfältigen Lichtreflexe des Wassers. Erinnerungen an eigene glückliche Momente im Sommer stellen sich beim Betrachten unmittelbar ein. Allenfalls könnten die Schlieren und Untiefen des grünlichen Wassers auch als Hinweis auf die jedem Leben inhärenten, nicht vorhersehbaren, vielleicht schwierigeren Zeiten gelesen werden.

Eine ganz andere Grundstimmung vermittelt das große, fast fünf Meter breite Werk Mann aus Sebaste (2018): Ziemlich genau in der Bildmitte läuft ein von hinten sichtbarer nackter Mann schnellen Schrittes ins weite tiefblaue Meer. Ist der Mann ein Sommerurlauber? Oder ein  Mensch, der etwas hinter sich lässt? Wenn auch im Zentrum platziert, verdeutlicht das Bild die Kleinheit des Mannes inmitten des tosenden Meeres, das als tiefgründige aufgewühlte tiefblaue Oberfläche den Bildraum bis fast zum Horizont dominiert. Hinten links ist ziemlich klein der Rücken eines zweiten Badenden zu sehen. Die am oberen Bildrand angedeuteten, leicht  orientalisch anmutenden Zeltformationen könnten sowohl Anspielungen auf die antike Stadt Sebaste in Palästina oder auf eine gleichlautende Stadt in der heutigen Türkei sein!

Bildfüllende Solisten, Staffagefiguren, Serie Human Nature

Zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere adaptiert Vlaming die literarische Figur Alice in Wonderland von Lewis Carroll für eine Folge von Bildern. Die kessen Portraits der temperamentvollen Mädchenfigur, die mit ihren Umrisslinien, dem frechen blonden Haarschnitt und den großen Augen auch an Comicfiguren erinnert, nehmen fast die ganze Leinwand ein. Rückblickend äußert sich Miriam Vlaming über diese Figur: „Mich hatte damals Alice als Protagonistin sehr stark fasziniert. Alice war für mich diejenige, die mir die Tür zum dreidimensionalen Raum öffnete. Sie verwirklichte für mich ein kindliches, fantastisches Gemüt, was verschiedene Räume erlebbar macht: innere wie äußere, reale und fantastische und diese gleitenden Übergange dazwischen.“²⁰

Wie zuvor erwähnt, nehmen auf Vlamings später entstandenen Arbeiten die Menschen zunehmend kleineren Raum ein. Natürlich gibt es aber immer mal wieder einzelne Figuren, die die ganze Leinwand in Beschlag nehmen, obwohl sie alles andere als Titanen sind. Ein Beispiel hierfür ist der schmale Ikarus mit zwei übergroßen Flügeln auf der Arbeit Metabotanica maskulin (2019). Ob der von den Flügeln fast Erdrückte wohl die Kraft aufbringt, „die Schwingen zu bewegen? Ikarus wird so zum starken Bild menschlicher Schwäche und Stärke zugleich.“²¹ Das Ikarus-Motiv war im Übrigen bei den Malern der Leipziger Schule seit jeher beliebt, da in dieser Parabel Scheitern, Vergeblichkeit und Absturz thematisiert werden konnten, was unterschwellig auch als Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in der ehemaligen DDR verstanden wurde.²²

Human Nature heißt eine von Vlaming 2016 realisierte Serie von zwölf Variationen menschlicher Konterfeis. Dabei handelt es sich um keine Porträts mit klaren Konturen und konkreten, geschlechtsspezifischen Zügen. Eher um Gesichtsfelder, deren Inkarnat – stark pigmentiert, farbig und in verschiedenen helleren Teints – bis an die Bildkanten der 40 Zentimeter hohen und 30 Zentimeter breiten Bildtafeln verläuft. Die geradeaus blickenden Gesichter werden durch die Augen, Brauen und Lider und die Nasen- und Mundpartie geprägt. Letztere meist mit vollen Lippen und sichtbarem Kinn, teilweise auch mit angedeutetem Halsansatz. Die eher geschlechtsneutrale Wahrnehmung der Gesichtszüge ist auch mit dem Verzicht der Künstlerin, Haare und Zähne abzubilden, zu erklären, da letztere doch wesentlich die Ausstrahlung eines Gesichts mitbestimmen. „Ihre (Vlamings) Strategie der Reihung erinnert dabei bedrückend an einst so populäre phrenologische Abformungen von Gesichtern außereuropäischer Menschen, wie sie für anthropologische und zoologische (sic!) Schausammlungen angefertigt wurden. /…/ Bei derlei seriellen Aufstellungen von Portraitbüsten blieb das Individuum auf der Strecke. /…/ Malerei als kritischer Kommentar. Gerade angesichts der momentanen Auseinandersetzungen um das Fremde und dessen vermeintliche Bedrohungen wirkt die vergleichsweise sparsame Reihe wie ein Appell an die Vernunft.“²³ Fremde Kultur und Schönheit visualisiert die Künstlerin auch in Portraits wie Mama Blue (2016), das eine selbstbewusste Frau mit Turban zeigt, die von floralen Ornamenten um- und überrankt wird.

Gruppenbilder / Vergangene und Fremde Welten
 
Auch in Gruppenbildern wie The Village (2016) thematisiert Miriam Vlaming exotische Erfahrungen: Das Bild zeigt eine Reihe afrikanischer Dorfbewohner in feinen, traditionellen Kleidern, die für ein Gruppenportrait Platz genommen haben. Die Gesichtszüge einzelner Frauen und Männer sind geradezu fotografisch genau erfasst. Bei anderen wiederum sind die Physiognomien übermalt und deren Ebenbilder nur vage durch die oberen Farbschichten zu erahnen. Die gesamte Szene ist von verhaltener Farbigkeit. Einfache Ornamente umrahmen und überlappen das Arrangement, das den Anschein erweckt, als sei es von einer nostalgischen Studioaufnahme angeregt. Andere größere Personenformationen wie The Graduates (2003) sind inspiriert durch Bilder von lange Zeit zurückliegenden Abschlussfeiern. Und immer wieder visualisiert Vlaming eindrucksvolle Familienaufstellungen in ihren Gruppenportraits, wie auch in der 2008 entstandenen Arbeit Die Sippschaft.
 
Kleinere Personengruppen zeigt die Künstlerin öfter bei kühnen Unterfangen in nebulösen Gefilden: Wie die surreal angehauchte Komposition New Dimension (2006), die zwei vogelartig durch die Lüfte schwebende jüngere Männer mit weit ausgestreckten Armen in der oberen Bildhälfte zeigt. Oder die fünf nahezu unbekleideten Personen, die auf einer leichten Hängebrücke sich an Seilen festhaltend nach vorne hangeln. Die Kleingruppe ist diagonal in der Bildmitte in einer rätselhaften blaugrünen Umgebung voller irisierender Lichtreflexe platziert. Schlieren und zahlreiche Lichtblitze tauchen die undurchdringliche, phantastische Landschaft in ein magisches Licht. In dieser Arbeit ist die Malerei von Miriam Vlaming geradezu energetisch aufgeladen: „Kunstwerke, soweit und solange sie Energien des Rausches entfesseln, sind, was sie zeigen, und zeigen, was sie sind.“²⁴
 
Resümee
 
Miriam Vlamings Bilder offenbaren keine Eindeutigkeiten: Bei allen ihren Arbeiten gibt es immer mehrere Ebenen und Lesarten. Der Künstlerin, die ein wacher, suchender, sensibler, sinnlicher Mensch ist, gelingt es immer wieder, mit ihren vielschichtigen Bildern das Unterbewusstsein zu berühren. In einem aufwendigen Malprozess generiert sie ausgehend von Fotografien und anderen Erinnerungen auslösenden Vorlagen Bildfindungen, die sie immer verändert, auslöscht oder als abstraktes Substrat stehen lässt. Die in vielen Arbeiten der Künstlerin spürbaren Geheimnisse sind dem intensiven Ringen um die Bildwerdung geschuldet: „Die Kräfte, die am oder im Kunstwerk wirken, sind seine Kräfte – hervorgebracht durch die Konstruktion des Werks, wirksam in der Dynamik seines Erscheinens.“²⁵ Das Fluidum und die Tiefe von Vlamings Werken lösen zwiespältige Gefühle, positive wie negative Empfindungen aus. Und so kommt im Angesicht der Exponate bei den Betrachter*innen selbst Erinnerungsarbeit in Gang. Die unterschwellig narrativen Arbeiten rufen teilweise eine Flut von Assoziationen hervor und haften nicht zuletzt deshalb nachhaltig im Gedächtnis. Einige dieser Kunstwerke aktivieren auch das filmische Denken in unseren Köpfen. Es bleibt also spannend, welche Bilderwelten die Künstlerin Miriam Vlaming unter künftigen Vorzeichen noch kreieren wird.
 
 
Notes
¹ Miriam Vlaming wie auch ihr Professor Arno Rink halten nicht viel von diesen insbesondere auch im Kunstmarkt gängigen ‚Etikettierungen‘. Sie sind der Ansicht, dass es keine ‚Leipziger Schule‘ gäbe, da sich dort eben keine „stilistische Kohärenz in der Art einer traditionellen „Schule“ erkennen“ lasse. Siehe hierzu: Mark Gisbourne, Essay, in: Dr. Harald Frisch (Hrsg.), Ausstellungskatalog Rink & Vlaming. Malerei bei FRISCH, 3. Mai – 15. Juni 2008, Ausstellungshalle FRISCH Berlin, o. S.
² Ebd., o. S.
³ Martin Oswald, Miriam Vlaming. Der Mensch, in: Museum für Zeitgenössische Kunst – Dieter Kunerth (Hrsg.), Ausstellungskatalog Miriam Vlaming. Der Mensch, Das Wesen, Memmingen, 2018, S. 6.
⁴ Miriam Vlaming, in: Alfred Weidinger (Hrsg.), Ausstellungskatalog VOIX – MalerinnenNetzWerk Berlin-Leipzig, Museum der bildenden Künste Leipzig, Leipzig, 2019, S. 18.
⁵ Nähere Angaben hierzu stehen in der ausführlichen Biografie, S. 151 ff.
⁶ Miriam Vlaming, zitiert in: Interview Im Gespräch Nicola Graef mit Miriam Vlaming, in: Kerber Verlag (Hrsg.), Katalog Human Nature, Bielefeld, 2017, S. 26.
⁷ Hierfür vermischt sie Eier mit Wasser, Leinöl und Farbpigmenten.
⁸ Thomas W. Kuhn, Miriam Vlaming. Habseligkeiten, Galerie Gmyrek 2009, in: Kunstforum Bd. 196, vgl. S. 196.
⁹ Susanne Altmann, Feldforschung in »Eden«, in: Katalog Kerber Verlag (Hrsg.), Miriam Vlaming. Human Nature, Bielefeld, 2017,vgl. S. 14.
¹⁰ Neo Rauch im Gespräch mit Werner Spies, in: Ausstellungskatalog Stiftung Frieder Burda u. Werner Spies (Hrsg.), Neo Rauch, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart, 2011, S. 51.
¹¹ Miriam Vlaming zitiert in: Norbert Wartig, Fragmente aus einem Atelierbesuch, in: Katalog Kerber Verlag (Hrsg.), Miriam Vlaming. Vormorgen, Bielefeld, 2007, S. 54.
¹² Miriam Vlaming, in: Interview Im Gespräch Nicola Graef mit Miriam Vlaming, a.a.O., S. 20.
¹³ Inge Herold, I want to be somewhere else, in: Ausstellungskatalog Kunsthalle Mannheim (Hrsg.), You promised me, Kerber Verlag, Bielefeld, 2008, vgl. S. 7.
¹⁴ Norbert Wartig, Fragmente aus einem Atelierbesuch, a.a.O., vgl. S. 54.
¹⁵ Ebd., vgl. S. 54
¹⁶ Inge Herold, I want to be somewhere else, a.a.O., vgl. S. 9. Memento Mori bedeutet: „Sei Dir Deiner Sterblichkeit bewusst.“
¹⁷ Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Carl Hanser Verlag, München Wien, 5. Auflage, 2016, S. 188.
¹⁸ Ebd., S. 190.
¹⁹ Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1988, vgl. S. 792 f.
²⁰ Miriam Vlaming zitiert in: Norbert Wartig, Fragmente aus einem Atelierbesuch, a.a.O., S. 55.
²¹ Marin Oswald, Vertigo. Malerei zwischen Himmel und Erde, in: Katalog Kerber Verlag (Hrsg.), Vertigo, Bielefeld, 2019, Berlin, S. 11.
²² Eduard Beaucamp, Den Traum der Kunst weitergeträumt; in: Ausstellungskatalog Stiftung Frieder Burda u. Werner Spies (Hrsg.), Neo Rauch, a.a.O., vgl. S. 146.
²³ Susanne Altmann, Feldforschung in »Eden«, in: Katalog Miriam Vlaming. Human Nature, a.a.O., vgl. S. 14.
²⁴ Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, a.a.O., S. 244 f.
²⁵ Ebd., S. 245.
 
Ute Bopp-Schumacher, 2022
aus dem Katalog: Dr. Ute Bopp-Schumacher, Wandlungen, Kerber Verlag, Bielefeld, 2022
 

Im Schutz der Nacht

Oft herrscht Nacht, zumindest Dunkelheit oder Dämmerung in Miriam Vlamings Landschaften. Diese Atmosphäre freilich wird nicht als bedrohliche Größe aufgeführt, sondern als ein Ort der tiefen geistigen Konzentration und der malerischen Suchens nach Linien und Flächen. Nacht funktioniert als Experimentierfeld für die Leuchtkraft von Pigmenten, für die Durchsetzungsfähigkeit von Formen, die Haltbarkeit von Kompositionen. Die Nacht dient als Baustelle für malerische Techniken. Aber gleichzeitig ist diese Dunkelheit ein metaphysischer Raum; ein Ort, wo sich Phantasien verselbständigen, wo Ängste und Beklemmungen universelle Qualitäten annehmen, aber auch ein Ort, wo jegliche Ablenkungen von der Realität und ihrem Tageslicht gefiltert und zu schöpferischen Leistungen umgemünzt werden können. Die Nacht ist eine ideale Projektionsfläche – spätestens seit der Romantik nutzen das Literaten wie Novalis und Künstler wie Caspar David Friedrich. Nachtstücke lassen die Konturen verfließen und wagen sich im Schutze der Dunkelheit an unerhörte formale wie auch emotionale Behauptungen. Tauchen menschliche Gestalten in Miriam Vlamings Landschaften auf, so ist ihr Verschwinden in den Naturkulissen bereits angelegt. Diese Figuren zeigen sich wie unter sumpfigen Wasserflächen oder sind so eng verwachsen mit Naturräumen, dass sie schon selbst wie Vegetation anmuten.

Susanne Altmann, 2013

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Feldforschung in ‚Eden‘
unternommen von Susanne Altmann

Mit der Verwendung von fotografischen Vorlagen hat sich Miriam Vlaming schon lange als visuelle Anthropologin betätigt. Familien- und anderweitige Gruppenbilder, vermeintliche häusliche Idyllen, kunsthandwerkliche Gebrauchsornamentik, marginale Architekturen oder Gartenanlagen gehören zu ihrem Fundus. Ihre malerischen Interpretationen kommentierten und verstärkten, verschleierten oder verallgemeinerten derlei Motive. Doch niemals ließ sie sich von den erzählerischen Inhalten völlig mitreißen, sondern blieb eine leidenschaftliche Malerin. Wenn sie sich zu entscheiden hätte, glaube ich, würde sie die Lesbarkeit ihrer Gemälde auf dem Altar der handwerklichen Finesse, dem Eigenleben der Form, den Experimenten aus Licht und Farbe opfern. Nach wie vor zerstört sie allzu perfekte Oberflächen, inszeniert die Leinwand wirkungsvoll als Palimpsest aus Verletzungen und nicht ausformulierten Erinnerungsfetzen. In der Genealogie der jüngeren Leipziger Figurationen verschafft ihr das eine Sonderposition, denn ihre Kompositionen ziehen die Betrachter stets tief in das Medium der reinen Malerei hinein, in einen dynamischen Strudel nichtgegenständlicher Elemente. Auch mit ihrer neuesten Produktion „Eden“ bleibt sie sich in dieser Hinsicht treu und man täte ihr Unrecht, wollte man sich allein auf den fremdartigen Phänotyp ihrer Protagonisten konzentrieren. Dennoch bezeichnet der aktuelle Zyklus Miriam Vlamings Interesse am exotischen Anderen. Das könnte eine heikle Sache sein, zieht man die Debatte um postkolonial(istisch)e Bildwelten in Betracht. Diese Debatte, politisch korrekt geführt, würde nämlich die Freude an exotischen Themen völlig verbieten. Denn wie gerade durch den Philosophen und kurator Wolfgang Scheppe mit seiner Ausstellung „Die Vermessung des Unmenschen. Zur Ästhetik des Rassismus“ eindrucksvoll demonstriert, sind gerade diese Bildmaterialien mit enormem Diskussionsbedarf aufgeladen – enthalten sie doch stets die zweifelhafte Norm der, sich als Forscher verstehenden Weltreisenden des 19. Jahrhunderts. So lautet eines der von Scheppe aufgestellten kritischen Ordnungskriterien für das obsessive Bildarchiv des umstrittenen Völkerkundlers Bernhard Struck (1888-1971): „Der Vermessende als Maßstab“, ein weiteres „Das Phantasma der Primitivität“ und ein anderes „Wissenschaftlicher Voyeurismus und Ethnopornografie“1. In Scheppes gezielt künstlerischer Interpretation dieser zwangsläufig rassistischen, historischen und dennoch bis heute nachwirkenden Perspektiven, schwingt die Unmöglichkeit mit, den Mechanismen solcher pseudowissenschaftlichen Bildbeweise mit wissenschaftlichen Mitteln gänzlich auf die Spur zu kommen. Erst die Konfrontation mit ihrer Fülle in einem Kunstprojekt lässt einen Blick in die Abgründe dieser Anmaßungen zu. Insofern kann man es als konsequent, hochreflektiert und fast als pionierhaft bewerten, wie Miriam Vlaming mit ihren malerischen Re-Appropriationen von derlei Sujets vermintes Gelände betritt. Das ist ein veritabler Spagat: Denn der Blick auf das Andere oder Andersartige gehört seit jeher untrennbar zum kreativen Formenschatz. Denken wir nur an die Faszination der Brücke-Künstler für afrikanische Masken und Schnitzereien aus der Südsee oder an die gemalte Sehnsucht der französischen Avantgardisten nach asiatischer Kultur. So reizvoll diese Zugänge auch gewesen sein mochten, dort waren stets zeittypische Illusionen von einem Paradies im Spiel, das so niemals und in der westlichen Zivilisation sowieso nur als hegemoniale Projektion existierte. Ein Paradies ohne Anführungszeichen. Wenn Miriam Vlaming heute mit dem Begriff „Eden“ operiert, so führt sie diese Ambivalenzen zwischen Staunen und Sarkasmus bereits im Gepäck. Das beginnt bereits mit ihrer erprobten Methode, vorhandenes Bildmaterial in die Gemälde einzuspeisen, nun mit erweiterten kulturellen und ethnischen Bezügen. In ihren Sujets zitiert sie die Bildproduktion des „weißen Mannes“ und seiner Kamera. Doch anstelle eines kritischen Kommentars übernimmt an dieser Stelle die Malerei. Mit Arabesken à la Matisse und wuchernder Ornamentik verunklärt sie etwa in „Initiation“ (2016) die Aufreihung mutmaßlich aboriginaler Ritualtänzer. Mit geradezu überdrehten Farb-und Formmarkierungen wie bei „Uncle Freak“ (2016) lässt sie ein maskiertes Männerpaar aus einem Musterdschungel hervortreten – wie aus einem gleichnishaften Fangnetz exotistischer Interpretationen. Miriam Vlaming stellt so gleichsam die Eigenständigkeit der damals Porträtierten, die entweder mit berechtigtem Misstrauen oder mit unverstellter Bereitwilligkeit ins Objektiv schauten, wieder her. Sie akzentuiert Momente des Fremden und Unheimlichen und kreiert eine neue, selbstbewusste Aura, die unsere westlichen Klischees geschickt unterwandern. Aggressiv und ironisch übersteigerte Masken und Kostüme scheinen die Rollenverhältnisse umzukehren: Betrachter_innen mögen sich leicht unbehaglich fühlen, fast selbst wie Objekte der Observation. Die dichten Gespinste aus Dekoration, Vegetation und visuellen Übertreibungen verordnen den Fotorelikten eine Art Re-Framing, einen neuen Rahmen. Oder, frei nach der Erkenntnis des Anthropologen Christopher Pinney: Sie blickt wie durch eine “Anti-Kamera” und wählt eine Darstellungstechnologie, die sich im Widerstand zur Fotografie befindet2. Anders als zahlreiche feldforschende Konzeptkünstler_innen geht Miriam Vlaming nicht von Theorien aus. Doch das muss sie auch nicht, denn allein entlang ihrer malerischen Intuition kommt sie zu starken, höchst relevanten Resultaten. Ihr gelingt beides: die künstlerische Rückeroberung eines mit diskursiven Stolperfallen verminten Gebietes wie auch die erwähnte Emanzipation ethnografischer Bilddokumente von deren oft dubiosen Entstehungskontexten. Am nächsten kommt sie der bewussten Einbettung in kritische Reflexion vielleicht in der Serie „Human Nature“, wo sie mit zwölf Variationen zu einem Gesicht die Willkür von Identitäten, seien es geschlechtliche oder ethnische, paraphrasiert. Kleinste Abweichungen in Teint, Lippen, Nasen oder Lidern fordern instinktiv zu Einordnungen auf. Geschickt überführt Miriam Vlaming die Betrachter_innen deren eigener, oberflächlicher Vorurteile; Vorurteile, die häufig und automatisch darin bestehen, Unterschiede zu dramatisieren, statt Gemeinsamkeiten festzustellen. Ihre Strategie der Reihung erinnert dabei bedrückend an einst so populäre phrenologische Abformungen von Gesichtern außereuropäischer Menschen, wie sie für anthropologischen und zoologische (sic!) Schausammlungen angefertigt wurden. Diese zynischen  Masken dienten zu nichts anderem, als durch schiere Quantität Abweichungen von Idealen und Standards biologi(sti)scher Überlegenheit aufzuführen. Bei derlei seriellen Aufstellungen von Porträtbüsten blieb das Individuum auf der Strecke. Oft endete die Skulptur ohne Ausformung des Schädels an den Rändern des Antlitzes und ließ eine symbolische Leerstelle zurück3. Auch das war eine Ästhetik aberwitziger Rassenideologien, die uns heute nur in der Anschauung bewusst wird. Miriam Vlaming scheint sich auf diese kritischen Fehlstellen zu beziehen, wenn sie die fiktiven Physiognomien bei „Human Nature“ nicht in einem Porträtkopf, sondern mit einer Ausdehnung des Inkarnats bis an die Ränder der kleinformatigen Leinwände führt. Dieser „Kunstgriff“ verweist auf die Absurdität anonymer, menschenverachtender Studienobjekte. Malerei als kritischer Kommentar! Gerade angesichts der momentanen Auseinandersetzungen um das Fremde und dessen vermeintliche Bedrohungen wirkt die vergleichsweise sparsame Reihe wie ein Appell an die Vernunft. Insofern liest sich „Human Nature“ wie ein Leitmotiv, das die Vision eines zukünftigen, globalen „Eden“ verheißt. Soviel Utopie darf sein. 

Note

1 Vgl. die begleitende gleichnamige Publikation zur Ausstellung „Die Vermessung des Unmenschen. Zur Ästhetik des Rassismus“ in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Lipsiusbau vom 13. Mai bis 7. August 2016 von Wolfgang Scheppe.

2 Vgl. Christopher Pinney, The Anti-Kamera in: Material World. A global hub for thinking about things, http://www.materialworldblog.com/2016/01/
the-anti-camera (aufgerufen am 14.Mai 2016)

3 Vgl. die in der Ausstellung „Die Vermessung des Unmenschen“ gezeigten Gipsköpfe bzw. kolorierten Lebensmasken der Brüder Gustav und Louis Castan (1836-1899, 1828-1909) aus dem Museum für Völkerkunde Dresden.

Susanne Altmann, 2016

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Einführung
von Michaël Braun Alexander

Am Anfang war das Mädchen. Alice heißt die Protagonistin in mehreren Frühwerken Miriam Vlamings in Anlehnung an Lewis Carrolls weltberühmtes Girlie, das unversehens in eine märchenhafte Unterwelt, prall gefüllt mit skurrilen Persönlichkeiten, abrutscht. Auch Vlamings farbintensive Alice scheint auf dem Sprung in ein Wunderland zu sein: kess, ungestüm und jugendlich-trotzköpfig – ein temperamentvoller Backfisch. Will die junge Dame nur spielen? Oder Aufmerksamkeit heischen, angemacht werden, Stinkbomben werfen? Wir können nur spekulieren. Indessen wandelt Vlamings Alice noch in einer halbwegs heilen Kinderwelt. „Ich bin noch jung“, möchte man ihr in Anlehnung an Matthias Claudius in den Mund legen, „fass mich nicht an!“ Sonst. Miriam Vlaming zeigt sich in ihrem Werk vor allem als Geschichtenerzählerin, ihre Arbeiten sind fabelhaft, doppelbödig, voller Abgründe. Sie bieten Raum für Interpretation und vielschichtige Deutung, was sie kurzweilig macht: Kunst, über die nachzudenken lohnt, die auch nach Jahren nicht fad wirkt, sondern an Timbre und Tiefe gewinnt. Mehrere der frühen Werke – nicht zuletzt jene mit Alice in der Hauptrolle – tragen einen verspielten und zugleich dynamischen, sogar dramatischen Zug. Um Weltflucht und Transzendenz ging es von Anfang an. Ihr Mädchen scheint flüchten zu wollen, aus einer öden, braun-beige gestalteten Gegend links im Bild hinein in ein knalliges, lebhaftes Blutrot (rechts). Später erleben wir sie in riesiger Gestalt, quasi zu einem biblischen Goliath aufgeblasen, der die räumliche Kontrolle über seine Umwelt zurück gewonnen hat – eine Metamorphose, die vielleicht als Reifungsprozess und Erwachsenwerden gedeutet werden darf. Derartige Verwandlungen bilden eines der Leitmotive im bisherigen Schaffen Vlamings. So auch in ihren neuesten Werken, unter dem Zyklustitel Eden lose gruppiert und überwiegend in den Jahren 2015 und 2016 in ihrem Atelier in Berlin-Pankow entstanden. Vlamings Opus deckt inzwischen – mit Mitte 40 blickt die deutsch-niederländische Künstlerin auf fast 20 Schaffensjahre zurück – zahlreiche Phasen ab, die relativ klar abgrenzbar sind. Diese Arbeitsabschnitte definieren sich kaum durch technische oder stilistische Brüche. Vlamings Arbeitsweise ist seit der Jahrtausendwende im Großen und Ganzen unverändert geblieben – eine Beständigkeit, die durchaus ihr Gutes hat. Sie arbeitet überwiegend mit fotografischen Vorlagen, die aufgebrochen, entfremdet und so gedeutet werden – „gedreht“, wenn man so will. Auch technisch setzt Vlaming auf Bewährtes. Vor allem Eitempera mit seiner milchig-bleichen, verwaschenen Anmutung kommt in zahllosen Arbeitsschüben auf der Leinwand zum Tragen. Farbige Einsprengsel strukturieren ihre Werke, geben ihnen Tiefe, ohne dabei in knallige Effekthascherei abzugleiten. Die stilistische Kontinuität geht mit virtuoser Kreativität bei der Auswahl ihrer Motive einher. Vlamings Werk zeichnet sich durch klar voneinander abgrenzbare Sujets aus, durch Zyklen, in denen Themenblöcke in zeitgleich konzipierten Bildreihen abgearbeitet werden. Am Ende jedes Zyklus’ steht ein Cluster an Gemälden, der ihr gewähltes Thema aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. So verband Vlamings Alice-Kosmos zur Jahrtausendwende in einer ersten Phase kindliche Akzente mit unheilschwangerer Symbolik. Die Künstlerin selbst beschreibt Einzelarbeiten dieser Episode als „Übungen in Bildkomposition“ und Farbenspielerei, wobei sie schon damals mitunter hochdramatische Stoffe anging. Leda und der Schwan (1998) beispielsweise bringt in spannungsreicher Komposition ein Mädchen mit einem schwarzen, formlosen Wesen zusammen. Eine Ahnung von Erotik, von nahendem Aufbruch in horizontale Welten, dominiert das Bild. Gereift präsentiert Vlaming sich in der nachfolgenden Periode, die in die Zeit um die Jahrtausendwende fällt und unter dem plakativen Oberbegriff „Friends & Family“ gruppiert werden könnte. Hier erscheinen konsequent (anders als bei Alice) fotografische Elemente als Ausgangspunkte künstlerischer Deutung, etwa in Nothing as sad as time (2002). In diesem grau-blassen, geradezu welk wirkenden Werk mit drei Figuren (der Künstlerin selbst, ihrem Bruder, ihrem Großvater) dreht sich alles um die Figur, die man eben nicht sieht: die kurz zuvor verstorbene Großmutter der Künstlerin, die die zugrunde liegende Aufnahme in Spanien geschossen hatte. Auch ein Afrikaaufenthalt Vlamings fällt stilistisch in diese Zeit, der etwa ein halbes Dutzend Bilder inspirierte. Diese Arbeiten bleiben dem Betrachter vor allem dank ihrer markanten „afrikanischen“ Gesichter und ihres Farbenrauschs in pink und lila im Gedächtnis. Was bis in die Gegenwart nachwirkt: Auch in Eden, Vlamings Darstellung eines Paradieses, nehmen Blicke und Gesichter den Betrachter ins Visier und gefangen. Die Wiedergeburt des Menschlichen im Eden-Zyklus ist keine Selbstverständlichkeit. Vlaming kommt, wie viele Arbeiten beleben, problemlos ohne lebendes Motivmaterial aus, wenn sie will. Sie malte seit etwa 2002 beharrlich figurenlose Eigenheime, die bestürzende Bürgerlichkeit atmen – eine Schaffensphase, die man in flapsiger Formulierung „Immobilienbilder“ nennen könnte. Was sie keineswegs als künstlerische Leichtgewichte abtun soll, im Gegenteil. Auf den ersten Blick skizziert dieser Bildcluster gemütlich-stille, leicht öde Dorf- und Vorortlandschaften; auf den zweiten brodelt es hinter den Kulissen. Ähnlich wie schon bei Alice ahnt man, dass die Stille trügt und hinter verschlossenen Türen und in verfallenen Gebäuden aufs Übelste intrigiert und gemetzelt werden könnte. Obgleich ein Dramatis personae fehlt, erzählt das Immobile, scheinbar Unbewegliche eine Geschichte – möglicherweise, das macht ihren besonderen Reiz aus, eine hässliche. Eigentlich sehen wir nur Gebäude, wie wir sie aus typischen deutschen Kleinstädten kennen. (Viele von ihnen sind eigentümlicherweise, für jeden sofort erkennbar, typisch deutsch, so verbraucht dieser Ausdruck klingen mag.) Dennoch wirken sie wie Häuser des Horrors dank ihrer verschwimmenden, oft düsteren Farben und der bedrohlich wabernden Umgebung. Man wäre nicht überrascht, würde in einem Gebäude à la Haus Daheim (2009) ein Norman Bates aus Alfred Hitchcocks Psycho oder Jack Torrance aus Stanley Kubricks Shining hausen, beide psychologisch recht auffällige Charaktere. Kurz vor Eden schließlich: der Tod. Noch 2014 und 2015 malte Vlaming phasenweise immer wieder Dunkles, Dräuendes – einen Themenkomplex, den die kreidig-diffuse Anmutung der Eitempera trefflich darzustellen vermag. Die Künstlerin fiel zu dieser Zeit in ihren eigenen Worten in ein „schwarzes Loch“. Sie sondierte in ihren Arbeiten folglich die Abgründe der conditio humana aus, die Vergänglichkeit des Seins, seine (im salomonisch-biblischen Sinne) Eitelkeit. Werke entstanden, deren Keim in Verstörung und tiefer Trauer lag. Genau das gibt ihnen erstaunliche Kraft. Sie zeichnen sich durch größere Informalität aus, gelegentlich sogar durch eine für Vlaming atypische Abnabelung vom fotografierten Ausgangspunkt. Und wie so oft im künstlerischen Schaffen aller Zeiten und Kulturen ist die kritisch-kreative Auseinandersetzung mit dem Tod ein Katalysator, der auch bei Vlaming einen Läuterungs- und Reifeprozess in Gang setzt, der in die Abgründe des Menschseins vordringt:

• Die Vorlage der Überfahrt zeigte ursprünglich eine launige Bootsfahrt auf einem Brandenburger See, ein heiteres, lebenfrohes Geschehen. Bei Vlaming sehen wir hingegen eine dunkle Welt, die Beklemmung auslöst. Mancher wird bei diesem Ausflug an den Hades Denken (übrigens erneut, wie Jahre zuvor bei Alice, ein Auf    odernes, avantgardistisches Motiv. Metamorphose auch hier: Es wird des Nachts in einen anderen Raum gewandert, vielleicht in einen anderen Seinszustand.

• Schließlich eine Art sitzender Tod, düster, ohne jedes fotorealistische Element, Ohne Worte getauft, als würde der Künstlerin angesichts der Finalität des Todes die Stimme versagen. Wir sehen einen Sensenmann ohne Sense, der einfach nur da sitzt, abwartend vielleicht oder auch erschöpft von all seinem großen Tun. Es ist eine weiche Figur, kein „wilder Knochenmann“ à la Claudius mit Schädelgrimasse, sondern eher ein sanfter Alter, sitzend im milde hoffnungsfrohen Grün des Hintergrunds. Das erstaunlich besinnliche Bild zieht den Tod als Freund in Betracht, sieht ihn jedenfalls nicht zwangsläufig als fürchterlichen Feind.

• Und nun – endlich! – ist Vlamings Trauer einer Erleichterung Gewichen, die sich in einer Explosion von Farben und Figuren manifestiert. Es geht in berauschendem Tempo raus aus der Unterwelt hinein in holdes Terrain, zurück in die Menschlichkeit, „die volle Lebenswucht“, so Vlaming. Das schwarze Loch, in das die Künstlerin versunken war, weicht einem schwelgenden Garten, einem Paradies (so das altsprachliche Wort für „Garten“). Erst im Angesicht des Todes erfahre man, „wie unglaublich wichtig das Leben ist“, sagt die Malerin über diese Wiederauferstehung, die eine neue Phase in ihrem Schaffen markiert. „Es hat sich eine Tür geöffnet.“ Genauer: das Tor zu einem üppigen Garten.

Schon zuvor hatte Vlaming Bäume und Wald thematisiert, stilistisch im Umfeld der oben skizzierten Immobilienbilder anzusiedeln. Auch diese Bilder wirken in ihrer heimatlichen Anmutung bedrohlich, dunkel und doppelbödig. In Eden geht sie einen Schritt weiter, indem sie in geografischer Freizügigkeit die üppige Vegetation tropischer, „exotischer“ Klimazonen inszeniert: Afrika, Australien, Amazonas. Die Flora dieses paradiesischen Kosmos besteht aus Philodendren und Lianen, Seerosen, Regenwald und Blüten, die in ihren saftigen Dimensionen aus Zauberwelten zu stammen scheinen – ein „Dickicht“, so Vlamings Intention. Die Fauna stellen Menschen in Quasi-Camouflage, die Teil der Umwelt werden, sich mit ihr symbiotisch verbinden. „Der Mensch entwächst aus der Natur, er geht zurück in die Natur, ist Teil der Natur.“ Nicht weniger wichtig ist, was wir in Vlamings Eden eben nicht sehen. Zwar grünt und blüht es prächtig, aber es fehlen flirrende Kolibris, Würgeschlangen, Paradiesvögel und anderes Getier, die traditionell paradiesische Bühnenbilder mit Leben füllen. Auch alles Überirdische fehlt, der biblischen Überlieferung zum Trotz, kein Gott scheint in diesem Garten zu herrschen. Vielmehr sehen wir Kultur und Natur in relativ spannungsfreiem Dialog. Nicht um Fressen-und-Gefressenwerden geht es, um Survival of the fittest, sondern um ein harmonisches Aufgehen des Menschen im grünen Bereich. Wir begegnen einer sitzenden, thronenden Frau (Mama Blue 2016). Den Gesichtszügen nach könnte diese Blumenkönigin eine Khoisan-Dame sein, eine Brasilianerin oder vielleicht eine Balinesin. Aber egal, Herkunft spielt keine Rolle, die Kraft ihrer Mimik spricht für sich (und schließt fast nahtlos an die Gesichter aus Vlamings Afrika-Phase an). Inmitten ihres Flowerpower-Reichs, umrankt von Grande bellezza in Flieder-, Moosgrün- und Brauntönen, scheint die Blütenfrau selbst still zu blühen. Im Amazonasgebiet beobachten wir Figuren mit Lendenschurz, Bogen und Köcher – Indios mutmaßlich – in einer „Traumlandschaft“ (MV) aus Wasser und Vegetation 

(Bird watcher 2016) In einem dritten Großformat 

(the other village 2016) betrachtet ein Dutzend sitzender Männer den Betrachter – ein Gruppenbild ohne Dame, das einen markanten Kontrapunkt zu Die Sippschaft (2008) bildet. Vor acht Jahren zeigte Vlaming eine Riege uniform gekleideter, schablonenartiger Figuren in rigider Sitzordnung, die verhärmt, freudlos, dumpf aus dem Bild starren. In Eden wirken ihre Menschen bei ähnlicher Sitzordnung individuell, warm und herrlich gelassen. Allerdings wäre es ein Trugschluss, Vlamings Eden als weltfernen Akt der Verklärung zu deuten. Ihr Garten mag ein Ort der Sehnsucht sein; er ist kein naiv idealisiertes Arkadien. Das Trauma der Vertreibung aus dem Paradies steht keineswegs bevor, sondern liegt hinter ihren Figuren. „Sie sind alle schon draußen!“, betont die Künstlerin, und jeder ihrer Protagonisten arrangiert sich mit Mutter Erde, so gut es eben geht. Zwischen Alice im Wunderland und dem nicht weniger wunderbaren Garten Eden liegen Welten. Vlaming hat eine weite Reise mit faszinierenden Zwischenstopps hinter sich gebracht. Zwar ist Eden ein Anagramm von „Ende“, aber dies als subtiles Signal der Künstlerin zu deuten, wäre vermutlich verfehlt. Zu intensiv ist nach den düsteren Bildern der Todesnähe die Aufbruchstimmung in der jüngsten Phase ihres Œuvres. Nach christlicher Überlieferung markiert die Vertreibung aus dem Paradies den Anfang einer großen Geschichte, nicht ihr Ende – und auch jenseits von Eden wird es Geschichten geben, die erzählt und auf die Leinwand gebannt werden wollen.

Michael Braun Alexander, 2017

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„ … auf die nackte Leinwand ein ganzes Universum“ – Die Malerin Miriam Vlaming

In den lichtdurchfluteten, großräumigen Berliner Atelierräumen von Miriam Vlaming empfängt den Besucher eine Atmosphäre voller angenehmer Leichtigkeit und positiver Energie. Zumeist großformatige Werke aus verschiedenen Werkperioden stehen lässig an die Wände gelehnt. Das Rauschen eines riesigen Ahornbaums vor den geöffneten Fenstern untermalt als Geräuschkulisse unterschwellig die überaus angenehme Stimmung. Recht geordnet stehen allerlei Farbmaterialien herum – Miriam Vlaming malt bevorzugt mit Eitempera –  das Atelier erinnert an ein Labor, das weniger streng wirkt und durch die vielen Dosen mit hell leuchtenden Pigmenten nebst einer Packung mit frischen Eiern gar an eine Kuchenbäckerei denken lässt. Diese traditionelle, recht aufwendige Form der Farbherstellung aus Pigmenten zeugt bereits von der Ernsthaftigkeit der Künstlerin, die die Leinwand als Erfahrungsraum begreift, als nur von ihr lenkbares Experimentierfeld, als „einen Balanceakt zwischen bewusster Kontrolle und gezielter Selbstvergessenheit“ und das mit Farben gefüllt wird, die für die anstehende Bearbeitung von der Künstlerin selber hergestellt und angemischt werden. Es unterstreicht die Individualität jedes Malaktes und somit auch die enge Bindung zwischen Künstler und Werk: „Du mischst eine Farbe – du hast das 100mal so gemacht – und dann kommt plötzlich was völlig Neues dabei heraus. Das sind die Momente, warum Maler malen. Es gibt diese magischen Momente, da bist du mit was auch immer verbunden, da führt jemand deine Hand. Das ist wirklich toll. Das geht aber nur, wenn du dich dem hingibst. Also, wenn man mal im Kopf die Stopp-Taste drückt.“ Miriam Vlaming ist nicht nur aufgrund der vorbereitenden Maßnahmen gewissermaßen eine ganzheitliche Malerin. Sie sieht die Leinwand als ihre Welt an, die zwar durch das Maß begrenzt, durch die zu erzeugende Räumlichkeit, dem Gegenüber von Vertiefung und Fläche, aber in gewisser Weise auch unbegrenzt ist. In ihren vielschichtigen Szenerien eröffnet sich dem neugierigen Auge ein ganzes Panoptikum figürlicher und abstrakter Ebenen. Nach längerer Betrachtung beginnt aber eine Regieanweisung aus dem Off, das offensichtliche Chaos auszubalancieren. Dies zeugt von der konzentrierten Herangehensweise von Vlaming an das Bildthema, an ihr Streben, dass das Bild nie auseinanderfällt und gleichzeitig offen bleibt für von ihr gelenkte Assoziationen. Schon auf den ersten Blick zeigt sich die Stärke von Miriam Vlaming, nämlich zwei divergierende Malprinzipien, die der Abstraktion und der gegenständlichen Komposition, ganz selbstverständlich und wohl temperiert miteinander verschmelzen zu lassen. 

Bird Watcher

Das Begreifen des Bildes als ganzheitlichen, unabhängigen Raum tritt in Vlamings Arbeiten in ungewöhnlicher Überlagerungsform auf. Am großartigen Werk „Bird Watcher“ aus ihrer aktuellen Serie EDEN lässt sich sehr schön die sympathische Komplexität ihrer Malerei begreifen: Figur und Landschaft sind gleichberechtigt, verschwimmen im Farbenkosmos, es gibt kein kompositorisches Zentrum – dieses wird genauso der Malerei selbst geopfert wie die Ordnung durch die Zentralperspektive. Trotzdem zerfällt die Bildeinheit keineswegs, ganz im Gegenteil stiften Form und Motiv eine sich gegenseitig stützende Wirkung zugunsten des Betrachtenkönnens der gesamten Bildlandschaft. Die Spiegelungen im Wasser unterstützen diese Wirkung noch. Die subtile Form der Eitemperamalerei ermöglicht durch die zurückgenommene Farblichkeit zudem eine grundsätzliche Distanz und Zurücknahme des Farblichen selbst und hilft, Vlamings Bilder als einen Raum real existierender visueller Gleichberechtigung zu begreifen, in dem Landschaft, Portrait, Natur, Narration wie Projektion zerfließen können. Gerade wenn man bedenkt, dass auch wir als Betrachter dem genannten Werk wie Suchende begegnen können und gewissermaßen wie die Bird Watcher selbst Teil des latent flirrenden Universums werden.

Das Romantische im Werk Vlamings

Diese Sichtweise auf Miriam Vlamings Werk rückt ihre Malerei auch in die Richtung der Romantik, wenngleich die romantische Bildformel eine Konfrontation mit Überlagerungen, Auswaschungen, geometrischen Mustern und wie Projektionen erscheinenden Figuren erfährt. Dieses Beziehungsgeflecht ignoriert auf den ersten Blick die vom Genre der Landschaft her eingeübte Bildtradition. Die Hauptakteurin Natur wird in eine künstliche Form überführt, in der aber die Rahmenbedingungen erhalten geblieben sind. Denn die kontemplative Atmosphäre einer impressionsreichen Natur findet sich auch in ihren Bildern wieder. Relationen und Gesetzmäßigkeiten im Bildkosmos gehorchen dabei aber einer übergeordneten, absoluten Idee, die das klassische Abbild einer Landschaft wie beispielsweise bei Casper David Friedrich, wo die Figuren im Bildvorder- und Mittelgrund sehr ausgewogen in die Natur gesetzt sind (vielleicht mit Ausnahme von Friedrichs „Mönch am Meer“), überwindet und ein überdimensionales Konglomerat aus gegenständlichen Themen und malerischen Effekten bis hin zur völligen Verstellung eines Fluchtpunktes zum Vorschein bringt. Geheimnisvolle Erzählungen, hervorgerufen durch die Anwesenheit oft nur angedeuteter Figuren in der Natur, treffen auf eine unsagbare, beinahe mystisch operierende Ebene der Abstraktion.

Auf der Suche nach Bestimmung im Kosmos der Malerei

Ihre weit geöffneten und malerisch intensiv erfahrbaren Landschaften und Szenen zeugen also von der Sehnsucht nach entgrenzten Erfahrungsräumen, die manchmal durch Fotovorlagen als Ausgangspunkt eine Zielbestimmung haben, die dann nach und nach durch den Prozess des Malens modifiziert werden. Dieser Weg kann durchaus mehrere Wochen oder Monate andauern. Vlaming muss sich den Zugang zum Bild stets neu erarbeiten, manchmal fließen spontane Ideen ein, die ihren Platz auf der Leinwand finden müssen und mit den bereits vorhandenen Partien interagieren. Die mit der Zeit entstehenden Malschichten und Tiefengründe aus Übermalungen, Andeutungen und Abstraktionen evozieren eine Atmosphäre des Schwebens, denn die Bildfiguren verschmelzen zu einem Bildthema, das eben von der Suche nach der Form und der Auslotung von Grenzen bestimmt ist: Eine Melange aus Farbschlieren, schemenhafter Figurationen, Malspuren und manchmal auch zerlaufenden Malpartien. Diese individuell bestimmte, von der Malerei getragene Unbestimmtheit stiftet eine Momenterfahrung, die eine untrennbare, malerisch verdichtete Verbindung mit dem Bildthema einzugehen vermag. Ein beinahe halluzinogener Vorgang: Das am Ende wohl geordnete und wohl temperierte Zusammenspiel von Farben und Raum, die Durchmischung der Bildgründe, in denen auch abstrakte Formationen ein Eigenleben gewinnen können, suggerieren ein Sehnsuchtsbild, das mit den Projektionen und Illusionen des Betrachters ein Spiel beginnt. Im offenen und rhythmischen Ausgleich von eindeutigen und unkonkreten Ebenen verzaubert Miriam Vlaming das Auge, ohne dabei die Balance zu verlieren, obwohl sich dabei zeitliche und räumliche Ebenen von ihrem Kontinuum zu lösen scheinen. Die gewohnte Wahrnehmung gerät ob der meditativen Qualität der Vlaming’schen Bildsphären ins Abseits. Es triumphiert der geheimnisvolle Bildraum, der das Auge immer wieder in Bewegung versetzt. Dabei unterstützt Vlamings grundsätzlicher Verzicht auf Grundfarben hin zur Durchdringung der Farben das Zwischenweltliche und lenkt die Konzentration auf die gesamte Bildebene.

Der diesem Portrait den Titel gebende Ausspruch von Miriam Vlaming 

„ … auf die nackte Leinwand ein ganzes Universum“ drückt sehr schön die hier schon angedeutete Komplexität der Malerei an sich aus: Bevor der erste Pinselstrich sich auf die strahlend weiße Leinwand begibt, lauert und schwingt das Universum der Malerei bereits im Atelierraum mit, auch wenn es sich in weiten Teilen noch im Kopf der Künstlerin befindet. Die Idee des Bildes scheint vage aber nicht unbestimmt schon vor dem ersten Akt des Malens – quasi unsichtbar – Teil des Geschehens zu sein. Grundvoraussetzung für diesen konzentrierten ersten Akt wie für die weitere Entwicklung des Gemäldes ist die Notwendigkeit des vor der Außenwelt hermetisch geschützten, einsamen Atelierraumes, in den nur das Tageslicht oder das Wehen eines Baumes eindringen sollte. Denn nur im persönlichen, abgeschotteten Dialog zwischen Maler und Bild lässt sich das individuelle Universum im Kopf auf die Leinwand entsprechend malerisch übertragen – vergleichbar mit einem Trancezustand, wo nur das innere Bild vor einem als Gegenüber existiert, das nun weiter behandelt werden muss: „Malen bedeutet für mich in erster Linie Kontakt mit mir selbst. Eine Annäherung an die eigene Seele. Es ist meine Art, mir die Welt anzueignen. Es muss eine Notwendigkeit für das Malen geben. Ich spüre dann, ich muss in die Aktion gehen. Es ist eine eigene Welt. In dieser Welt darf ich mit Farben panschen, wenn ich es will auch mal an die Wand schmeißen und aus dem Nichts etwas zu schaffen, zu erschaffen, somit also auf die nackte weiße Leinwand ein ganzes Universum.“ Nach meinem längeren Gespräch mit der Künstlerin wird mehr und mehr deutlich, dass das Bild für sie ein wahrhaftiges und intensives Zwiegespräch darstellt. Auch bei mir werden die vor mir aufscheinenden Bildwelten immer mehrschichtiger aber auch narrativ immer besser fassbar. Ihre Herangehensweise wird mir stetig klarer und immer sichtbarer in ihren Bildern, wo die sogenannte Komposition einen ungewöhnlichen aber umso sympathischeren Verlauf nimmt: „Es sind auch diese glücklichen Unfälle oder Sackgassen im Bild, wo man merkt, da geht es jetzt einfach gar nicht mehr weiter. Das wird dann sehr emotional. Manchmal ist es durchaus auch diese Wut, wenn ich die Imagination verliere. Dann muss ich etwas zerstören, wasche die Farbe ab und gebe dadurch auch wieder etwas frei. Das Bild bekommt Luft und Leerstellen, mit denen ich mich dann wieder bewusst neu auseinandersetzen muss. Da kommt dann wieder die Dimension Zeit hinzu. Malen hat mit Entwicklung, mit langen Prozessen zu tun. Mit Zeitlosigkeit und dann entsteht im besten Falle etwas Zeitloses.“

Vlaming versus Haruki Murakami

Diese Betrachtungsweise der Welt als möglichen zeitlosen Raum erinnert somit auch an die Weltvorstellungen und vom Alltäglichen erhabenen Perspektiven und Erfahrungsräume des japanischen Romanciers Haruki Murakami, dessen mysteriöse Helden die Verhältnisse ebenso frei von allen üblichen Reglements zu interpretieren wissen und eine Metaphorik beschwören, die das Mystische und das Gewöhnliche auf eine sich gegenseitig bedingende Ebene stellen. Denn sie fragen sich mitunter welche Nachteile sich im Alltag ergäben, „wenn man beispielsweise die Erde nicht als Kugel, sondern als riesigen Kaffeetisch auffasste.“ (…) So ist der Erzähler des Weiteren der Ansicht, „dass die Welt sich aus einer Unendlichkeit von Möglichkeiten zusammensetzt. Und die Auswahl ist zu einem gewissen Grade den die Welt strukturierenden Individuen anheimgestellt. Die Welt ist ein aus kondensierenden Möglichkeiten bestehender Kaffeetisch.“ In diesem Sinne lassen sich auch die malerischen Phantasien Miriam Vlamings als einen von üblichen Bildgesetzen befreiten, autonomen Weltinnenraum begreifen, der gleichzeitig prozesshaft den Seelenraum der Künstlerin widerzuspiegeln vermag. Die hierin wirkenden Synergien und Metaphern orientieren sich nicht an irgendeine vorgeformte Art von Aufklärung oder festen visuellen Gesetzen. Vielmehr wollen sie das Gegenteil erreichen. Die Einsicht, dass die Erinnerung an die Natur oder an eine private Szene aus der Kindheit nur durch die Durchkreuzung der sie überlagernden konkreten und immer nach Eindeutigkeit strebenden Sichtweisen bedingt ist, lassen Vlamings Szenerien als Anleitung zur Hinwendung zu freier Projektion und Assoziation verstehen. Dabei vermögen sie, als malerisches Ganzes, als eigenes sich selbst behauptendes Universum, sich dem kulturellen Muster der Trennung der darstellenden Medien zu entziehen. Schließlich geht bei ihren Werken jegliche Narration von einer ver- und überblendeten und gleichzeitig eigendynamischen Natur und menschlichen Präsenz aus – selbst wenn mitunter in ihren Bildern die figürliche Totalität des Menschen fehlt. Nachdem mein Atelierbesuch den geplanten Zeitrahmen wie auch die Anzahl der Tassen Kaffee um Dimensionen überzogenen hat, fahre ich beschwingt mit meinem alten, klapprigen Fahrrad zurück nach Berlin Mitte und frage mich – versehen mit einem inneren Lächeln hinsichtlich des in mir aufkommenden Gedankens – ob das Romantische in unserem von selbstherrlichem Hipstertum, oberflächlichen kulturellen Verirrungen und endlosen, durchdigitalisierten und somit nie wirklich bedeutsamen Momenten geprägten Dasein doch noch am Leben zu sein scheint und zur Rückkehr zur wirklichen, analogen Kontemplation auffordert?

Über Miriam Vlaming

Miriam Vlaming erblickt 1971 in Hilden bei Düsseldorf das Licht der Welt. An der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf nimmt sie 1991 ein Studium der Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie auf. Danach zieht es Miriam Vlaming immer stärker zur Kunst hin und wechselt im Jahre 1994 an die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst in die Klasse von Arno Rink, einem der wichtigsten Künstler, die das künstlerische Erbe der DDR bestimmen. Bereits 1971 beginnt Arno Rink als Hochschullehrer in Leipzig und wird eine wichtige Instanz der so genannten Neuen Leipziger Schule. Hier schließt Miriam Vlaming 1999 ihr Studium mit Auszeichnung ab, wird sodann für zwei Jahre Rinks Meisterschülerin und nimmt dort nach Studienabschluss einen Lehrauftrag an (2001-2003). Sie lässt sich in diesem Sinne auch der Leipziger Schule zuordnen und gehört zweifelsohne zu ihren prägendsten und wichtigsten Vertreterinnen. Letztlich beschreibt aber diese Einordnung nur ihre malerische Herkunft, sie ist aber im Hinblick auf ihre sehr individuelle Entwicklung und Malweise nicht wesentlich und würde die Perspektive auf ihr Werk nur unnötig einschränken. Vlaming zeigt ihre Werke auf zahlreichen internationalen Einzelausstellungen. Unter anderen ist hervorzuheben ihre Einzelausstellung „YOU PROMISED ME“ in der Kunsthalle Mannheim (2008), wo über 50 zumeist großformatige Gemälde zu sehen waren. Bilder von Miriam Vlaming sind in bedeutenden öffentlichen nationalen und internationalen Sammlungen und Museen vertreten – zu nennen wären hier zum Beispiel das Von der Heydt Museum Wuppertal, die Kunstsammlung der Deutschen Bank oder die Robert Bosch Stiftung. Miriam Vlaming lebt und arbeitet mittlerweile seit 6 Jahren in Berlin.

Uwe Goldenstein, 2016

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